Österreichs Standards für psychologische Gutachten waren vor einigen Jahren ein Fortschritt. Aber sie lösen in der Praxis das Grundproblem nicht: Noch immer gelangen mangelhafte Expertisen in familienrechtliche Verfahren, mit massiven Folgen für Kinder und Eltern.
Österreich besitzt eine Besonderheit in Europa. Es gibt eine ministerielle Richtlinie für klinisch psychologische und gesundheitspsychologische Befunde und Gutachten sowie eine eigene Empfehlung für familienrechtliche Gutachten. Diese Texte strukturieren den Gutachteralltag und schaffen ein Mindestmaß an Verbindlichkeit. Die Frage bleibt dennoch offen, ob sie die reale Qualität wirklich heben.

Was geregelt ist und was fehlt

Die Gutachterrichtlinie des Sozialministeriums gibt Grundprinzipien vor. Dazu gehören informierte Zustimmung, Verschwiegenheit, Dokumentationspflicht, Hypothesenorientierung, Nutzung verschiedener Datenquellen sowie die Trennung von Befund und Bewertung. Für den Familienrechtsbereich hat das Ministerium 2023 die Empfehlung überarbeitet. Sie betont multimethodales Vorgehen, Interaktionsbeobachtung, kindliche Bedürfnisse und den Kindeswillen. Auch Privatgutachten müssen die gleichen fachlichen Kriterien erfüllen.

Die Papiere bleiben bei zentralen methodischen Fragen zurückhaltend. Es gibt keine Positivliste geeigneter Verfahren, kaum Vorgaben zur Validierung von Aussagen und keine klaren Prüfmechanismen für die Einhaltung. Damit hängt die tatsächliche Qualität weiterhin stark von der einzelnen Sachverständigenperson ab. Das gilt besonders im Familienrecht, wo Fehler gravierende Folgen haben.

Kritische Evidenz aus Forschung und Praxis

Mehrere Untersuchungen belegen strukturelle Qualitätsprobleme in familienpsychologischen Gutachten. Die Hagener Studiengruppe um Salewski und Stürmer fand methodische Mängel in einem substanziellen Teil der untersuchten Gutachten. Genannt werden fehlende Arbeitshypothesen, unklare Kriterien und seltene Bezüge auf aktuelle Fachliteratur. Ergebnisse aus dieser Linie sind seit 2014 bis 2016 veröffentlicht und wurden in Fachdebatten breit aufgegriffen.

Weitere Auswertungen schildern, dass nur eine Minderheit zentralen Standards genügt. Fehlende Begründungen für die Auswahl der Erhebungsmethoden und mangelnde Anbindung an Gütekriterien kommen häufig vor. Auch im österreichischen Diskurs gibt es Kritik an der Gutachtenpraxis. Medienberichte und Fachbeiträge thematisieren Qualitätsmängel, etwa mangelnde Transparenz, fragwürdige Methoden oder fehlende Kontrolle. Kurz gesagt: Der Befund ist seit Jahren stabil und unbequem. Es gibt hilfreiche Papiere. Es gibt aber zu wenig überprüfbare Umsetzung.

Neben den ministeriellen Texten existieren Standesregeln des Hauptverbandes der Gerichtssachverständigen. Sie regeln Neutralität, Offenlegung möglicher Befangenheitsgründe, Verhalten bei Befunden und Gutachten sowie Besonderheiten von Privatgutachten. Diese Regeln sind wichtig, ersetzen aber keine systematische fachliche Qualitätssicherung.

Kinderrechte als Maßstab

Europäische Leitlinien fordern kindgerechte Justiz. Kinder müssen verständlich informiert werden. Ihre Beteiligung und Rechte sind zu sichern. Verfahren sollen zügig und auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtet sein. Das betrifft auch die Begutachtung. Ein Gutachten, das fachlich schwach ist oder lange dauert, verletzt diese Standards im Ergebnis.

Konsequenzen für die Praxis in Österreich

Was aus einem Qualitätsrahmen ein echtes Qualitätssystem macht, sind verbindliche Prüfungen, Transparenz und Folgen bei Verstößen. Diese Schritte wären jetzt noch umzusetzen:

  1. Verbindliche Prüfkataloge
    Gerichte sollten bei Bestellungen standardisierte Checklisten verwenden. Diese müssen Hypothesenbildung, Operationalisierung, Methodenbegründung, Dokumentation und die Trennung von Befund und Bewertung abfragen. Die deutschen Mindestanforderungen sind als Referenz nutzbar, reichen allein aber nicht.
  2. Externe Qualitätssicherung
    Ein Peer Review etablierter Gutachten kann Fehler früh sichtbar machen. Modelle dazu liegen vor und sind erprobt.
  3. Audio und Video bei Explorationen
    Eine verpflichtende Aufzeichnung schützt alle Beteiligten und erhöht Nachvollziehbarkeit und Beschwerdemanagement. Diese Forderung folgt direkt aus dem Transparenzgebot und den Anforderungen kindgerechter Justiz.
  4. Methodentransparenz
    Wer testet, muss Gütekriterien, Normgrundlagen, Übersetzungen und Limitationen offenlegen. Auswahlentscheidungen sind schriftlich zu begründen. Dazu gehören auch klare Aussagen, wenn ein Test nicht passt. Genau diese Punkte werden in der Forschung immer wieder als defizitär beschrieben.
  5. Validierung statt Eindrucksdiagnostik
    Gerade im Konfliktfeld Familienrecht sind Eigeninteressen hoch. Ein intermethodaler Datenabgleich und explizite Gegenhypothesen gehören in jedes Gutachten. Fehlende Validierung zählt zu den häufigsten Befunden der Kritik.
  6. Fortbildungspflicht und Rezertifizierung
    Sachverständige brauchen regelmäßige Fortbildungen mit Schwerpunkt Methoden und Ethik sowie rezertifizierte Fachkunde. Die Standesregeln sind ein Fundament. Ein darüber hinausgehendes, staatlich überwachtes Fortbildungssystem wäre der nächste Schritt.
  7. Beschleunigung und klare Fristen
    Lange Begutachtungszeiten widersprechen dem Kindeswohlprinzip. Das europäische Leitbild verlangt zügige, verständliche, partizipative Verfahren.

Österreich hat mit Richtlinie und Empfehlung einen Vorsprung. In der Realität bleibt es jedoch häufig bei Formalien. Die Hagener Befunde und andere Analysen zeigen, wie groß die Lücke zwischen Anspruch und Umsetzung noch ist. Ministerielle Texte allein verbessern kein Gutachten. Sie müssen mit Kontrolle, Transparenz und fachlichen Mindeststandards in der täglichen Praxis verbunden werden.

Quellen zum Weiterlesen

• BMSGPK Gutachterrichtlinie. Stand Juni 2020. Offizielle Fassung und Anwendungsrahmen. (Sozialministerium)
• BMSGPK Empfehlung für familienrechtliche Gutachten. Überarbeitete Fassung September 2023. (Sozialministerium)
• Mindestanforderungen im Kindschaftsrecht Deutschland. Zweite Auflage 2019. (BMJV)
• Salewski und Stürmer. Qualität familienrechtspsychologischer Gutachten. Empirische Analyse und Praxiskommentare. (ResearchGate)
• Council of Europe. Guidelines on Child friendly Justice. Maßstab für kindgerechte Verfahren. (Portal)

One Reply to “Richtlinien auf dem Papier aber schlechte Gutachten vor Gericht”

  1. Richtlinien für Gutachten ist eine nett gemeinte Sache. Solange man sich aber über bestimmte psychologische Sachverhalte nicht einig ist, bringen die besten Richtlinien nichts.

    – Obwohl das Konzept der elterlichen Entfremdung international breite Akzeptanz findet (auch vom EuGH für Menschenrechte), wird es seit Jahren von bestimmten Gruppierungen in Frage gestellt. Solange Gutachter pathologische Entfremdung nicht erkennen, sind Gutachten eine Gefahr für das Kindeswohl und verstärken das Leiden ausgegrenzter Elternteile.
    – Kinder können in Sorgerechtsfällen als Waffe eingesetzt werden. Es wird nicht kritisch hinterfragt, ob der Kindeswille nicht eher vorgeschoben wird, um elterliche Konflikte zu lösen. An Kindern wird die Verantwortung abgeschoben anstatt die Elternteile und die Prozessbeteiligte in die Pflicht zu nehmen.

    Es mangelt im Familienrecht um konstruktive Diskussion. Lobbyisten haben das Sagen, die oftmals emotional argumentieren und ihre eigenen politischen Interessen durchsetzen wollen.

    Aus eigener sehr schlechten Erfahrung kann ich von Gutachten nur abraten. Sie haben die Sache deutlich verschlimmert. Solange die Punkte von oben nicht geklärt sind, ist es besser, keine Energie und Geld in Gutachten zu verschwenden, die den Konflikt anheizen.
    Mir wäre lieber, ich könnte anderes empfehlen. Dazu müssen aber bestimmte Hausaufgaben gemacht werden.
    Gutachten dürfen nicht zu einer Lotterie verkommen, deren Ausgang zur reinen Willkür wird.

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