Island wurde wegen mangelhafter Ermittlungen zu häuslicher Gewalt verurteilt! Mit Signalwirkung auch für andere Staaten.

Am 26. August 2025 sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zwei mit Spannung erwartete Urteile gegen Island. Beide Verfahren betrafen Frauen, die Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt geworden waren und deren Anzeigen von den isländischen Behörden nicht zu einer wirksamen Strafverfolgung geführt hatten.

Der Fall M.A.: Island verletzt Artikel 8 EMRK

Im Verfahren M.A. gegen Island stellte der EGMR eine Verletzung von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention fest. Die Polizei hatte die Ermittlungen zu körperlichen Angriffen des Ex-Partners der Beschwerdeführerin verschleppt. Durch administrative Verwirrung, Sommerurlaub der Ermittler und fehlende Dringlichkeit verstrichen die Fristen – die Taten wurden verjährt, bevor der Beschuldigte befragt war.

Der Gerichtshof betonte, dass Staaten bei Fällen häuslicher Gewalt „positive Verpflichtungen“ haben:

„Effektive Abschreckung gegen schwerwiegende Angriffe auf die physische und psychische Integrität erfordert effiziente strafrechtliche Mechanismen“ (EGMR, M.A. v. Iceland, Rn. 43).

Die Ermittlungsbehörden hätten es nicht geschafft, „mit der gebotenen Dringlichkeit und Konsequenz“ vorzugehen. Dass der Täter zwar wegen einer Drohung verurteilt wurde, die Gewaltvorwürfe aber wegen Fristversäumnissen nicht mehr verfolgt werden konnten, wertete der EGMR als schwerwiegendes Versagen.

Der Fall B.A.: Kein Konventionsverstoß festgestellt

Anders fiel das Urteil im Verfahren B.A. gegen Island aus. Hier warf die Beschwerdeführerin ihrem früheren Lebensgefährten über Jahre hinweg psychische, physische und sexuelle Gewalt vor. Die Ermittlungen verliefen ebenfalls schleppend, letztlich stellten Polizei und Staatsanwaltschaft das Verfahren ein.

Der EGMR hielt fest, dass auch in diesem Fall die Schwelle des Artikels 8 EMRK erreicht war, da es sich um gravierende Vorwürfe sexueller Gewalt handelte. Dennoch sah das Gericht die Ermittlungen insgesamt als „hinreichend effektiv“ an:

„Das Verfahren als Ganzes erfüllte die Anforderungen an eine wirksame Untersuchung“ (EGMR, B.A. v. Iceland, Leitsätze).

Die Richter betonten, dass die Behörden zahlreiche Zeugen vernommen und den Sachverhalt geprüft hätten, auch wenn es am Ende nicht zu einer Anklage kam. Eine strukturelle Diskriminierung gegen Frauen konnten sie in diesem Einzelfall nicht feststellen.

Kontext: Systemische Probleme

Die beiden Urteile stehen im Kontext einer seit Jahren geführten Debatte über die Qualität der isländischen Strafverfolgung bei geschlechtsbezogener Gewalt. Nur rund 13 Prozent aller Anzeigen wegen sexueller Gewalt enden in einer Verurteilung – die überwältigende Mehrheit wird eingestellt. Frauenorganisationen wie Stígamót, Aflið und die isländische Sektion von UN Women hatten deshalb bereits 2020 Überlebende ermutigt, den Gang nach Straßburg zu wagen.

Von ursprünglich neun eingebrachten Fällen wurden zwei nun entschieden, mit einem Teilerfolg für die Betroffenen. Sie sehen darin einen wichtigen Präzedenzfall: Erstmals wurde Island von einem internationalen Gericht bescheinigt, dass sein Umgang mit Fällen häuslicher Gewalt menschenrechtswidrig war.

Bedeutung über Island hinaus

Die Entscheidung hat Signalwirkung weit über Island hinaus. Der EGMR machte deutlich, dass Staaten verpflichtet sind, Verfahren bei häuslicher und sexueller Gewalt mit höchster Priorität zu führen. Verzögerungen, Verjährung und die systematische Abwertung von Opferzeugnissen widersprechen den Konventionsgarantien.

Gerade weil viele Betroffene aus Scham oder Angst erst Jahre nach den Taten Anzeige erstatten, verlangt der Gerichtshof, dass nationale Gesetze und Ermittlungspraktiken diesem Umstand Rechnung tragen müssen.

Ein Sieg, aber kein Endpunkt

Für die Frauenrechtsbewegung in Island und Europa bedeutet das Urteil M.A. v. Iceland einen wichtigen Sieg. Doch die Aktivistinnen selbst mahnen: Es bleibt ein langer Weg, bis Betroffene von geschlechtsbezogener Gewalt tatsächlich auf faire Verfahren und Schutz vertrauen können. Die weiteren sieben Fälle vor dem EGMR sind noch anhängig, und könnten die Kritik an systemischen Schwächen im isländischen Justizsystem weiter verstärken.

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