Irren ist menschlich aber nicht unausweichlich – zumindest dann nicht, wenn die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Der österreichische Rechtsstaat funktioniert, ist aber gespickt mit systemischen Lücken, die Raum für Trugschlüsse, Machtmissbrauch und letztlich Ungerechtigkeit lassen. Mit diesen Lücken und möglichen Lösungsansätzen, beschäftigten sich vergangene Woche VertreterInnen aus Justiz, Opferschutz, Psychotherapie und Medien bei einer Fachtagung, mit anschließender Podiumsdiskussion, partnerschaftlich veranstaltet u.a. von Menschen und Rechte.
Die Breitenseer Lichtspiele in Ottakring: aussagekräftig begann die Tagung bereits am Vorabend, mit der Vorstellung zweier Dokumentar-Filme. Im Mittelpunkt, zwei verschiedene Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Eine Mutter und ein Vater berichteten jeweils von menschlichen Bruchstellen in der Justiz und dem Trauma, das sie und ihre Familien erlitten haben. Einerseits durch die Nicht-Anerkennung sexueller Übergriffe, andererseits durch falsche Anschuldigung derselben. Bevor es am nächsten Tag an die Auseinandersetzung mit den menschlichen Schwächen des Rechtssystem ging, offenbarten die beiden anwesenden ProtagonistInnen, welche Abgründe sich durch Fehler im Alltag eines Gerichts-, Ermittlungs- oder Obsorge-Verfahrens auftun können.

Mit einer Videobotschaft der Justizministerin Anna Sporrer, begann am 21. November die Fachtagung „Aussage gegen Aussage“. Anknüpfend an die Filme lieferte der forensische Psychiater Frank Urbaniok den ersten Input für die Workshops. Er begleitete den erwähnten Vater, der von seiner Adoptivtochter des sexuellen Missbrauchs beschuldigt und mittlerweile freigesprochen wurde. Den konkreten Fall führte Urbaniok auf das Phänomen der False Memory zurück, ordnete ihn in Verhaltensmuster aus seiner Praxis-Erfahrung ein und stellte die These in den Raum, dass Falschbeschuldigungen zunehmen würden, was anschließend lebhaft diskutiert wurde. Einigkeit bestand nach diesem ersten Arbeitsabschnitt darüber, dass es in Österreich eine Schieflage in Bezug auf psychologische und psychiatrische Gutachten gäbe. Die Zahl der GerichtsgutachterInnen, sowie deren Vergütung seien zu gering, zumal das Arbeitsaufkommen schlecht verteilt würde. Ansätze zur Qualitätssicherung von Gerichtsgutachten wurden daher als zentrale Vorschläge formuliert.

Es folgte die Perspektive der Medien aus Sicht von Alexander Rupflin von der ZEIT. „Die meisten können nicht stundenlang im Gericht sitzen und tausende Seiten Akten lesen“, erklärte er die Bedeutung von professionellem Journalismus für das Justizsystem, im Austausch mit der Zivilgesellschaft. Der Kriminalreporter schilderte die Herausforderungen bei der Annäherung an die Wahrheit, im Spagat zwischen juristischer Komplexität und menschlicher Betroffenheit – und den Mechanismen der Medienbranche. In den Arbeitsgruppen ging es daraufhin vor allem um Geld. Das Feld der Gerichtsberichterstattung dürfe nicht dem Boulevard überlassen werden. Wenn Berichterstattung nach Qualitätskriterien, wie Persönlichkeitsschutz oder Unschuldsvermutung, wirtschaftlich nicht tragfähig ist, müsse deren Einhaltung systemisch ermöglicht werden. Der gesellschaftliche Diskurs würde ansonsten von reißerischen Zuspitzungen und nicht von rechtsstaatlicher Ausgewogenheit dominiert werden. Dazu solle die Presseförderung an die Mitgliedschaft beim Presserat geknüpft werden.
Staatsanwältin Anna-Maria Wukowits und Alois Birklbauer vom Institut für Strafrecht der Johannes-Kepler-Uni, brachten den letzten Fach-Input ein. Aus jahrelanger Praxiserfahrung, konnten sie Lücken im österreichischen Rechtssystem anschaulich darlegen: Verfahrenshilfe ist meist erst ab der Hauptverhandlung vorgesehen, also nach dem Ermittlungsverfahren. Gegenstand von Urteilen ist die Sicht des Angeklagten, nicht die Glaubwürdigkeit des Opfers. Über Wiederaufnahmeanträge entscheidet der Richter bzw. die Richterin, die das beanstandete Gerichtsverfahren geleitet hat. Vorzeitige Entlassungen sind stark vom Bezug der verurteilten Person, zur Tat und zur eigenen Schuld abhängig. Mangelndes Schuldbewusstsein ist hierfür also hinderlich.

Abschließend moderierte Magdalena Schwarz von der Wochenzeitung die Furche, eine Podiumsdiskussion mit den Vortragenden, sowie Gewaltschutzexpertin Maria Rösslhumer vom Verein StoP – Stadteile ohne Partnergewalt. Es wurde festgestellt, dass ein funktionierender Rechtsstaat, wie es ihn in Österreich gibt, ein nicht gering zu schätzendes Privileg ist. In jedem System tritt aber an Stellen, die anfällig für menschliches Versagen sind, dieses unweigerlich ein. Und davon gibt es in der österreichischen Justiz zu viele. Zu viele Bruchstellen und Lücken, die bekannt und reparierbar, aber unberührt sind. Bei der Tagung haben sich Menschen zusammengetan, die das nicht hinnehmen und sich an Lösungen beteiligen wollen. „Aussage gegen Aussage“ erinnert daran, dass echter Schutz und echte Gerechtigkeit nur durch gemeinsames Hinsehen und Handeln entstehen.
Die Podiumsdiskussion zum Nachschauen:
Eine Veranstaltung von:
Union für die Rechte von Gefangenen
Menschen & Rechte
Verein StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt
Evangelische Gefängnisseelsorge
ASH Forum der Zivilgesellschaft
