Wie schafft die forensische Psychotherapie den Spagat zwischen Verantwortung, Medikation und Menschlichkeit?

Wer psychotherapeutisch mit Menschen arbeitet, die schwere Straftaten begangen haben, wird täglich mit fundamentalen Fragen konfrontiert: Wann ist jemand krank – und wann einfach nur gefährlich? Wo endet Therapie, wo beginnt Kontrolle?

Seit über zehn Jahren arbeite ich als Psychotherapeut in einer forensischen Ambulanz – mit „gesunden“ Straftätern ebenso wie mit jenen im Maßnahmenvollzug. Meine Arbeit bewegt sich in einem ständigen Spannungsfeld aus Mitgefühl, Konfrontation und Risikomanagement – und wirft immer wieder die Frage auf, was Gesundheit vor dem Hintergrund von Kriminalität überhaupt bedeutet. Diese Fragen sind nicht nur philosophischer Natur, sondern ein integraler Bestandteil der Behandlung und der Gespräche mit den KlientInnen.

Zwischen Gesundheit und Krankheit
Eine Vielzahl von Straftaten entsteht als Reaktion auf problematische Lebensumstände, psychische Erkrankungen oder Hoffnungslosigkeit für die eigene Zukunft. Betrachtet man Gesundheit, breiter als eine Checkliste von Symptomen, welcher ein Patient ausweißt, wird deutlich: Menschen, die schwere Straftaten verübt haben, sind fast immer in irgendeiner Form stark beeinträchtigt oder mit dem Leben überfordert.

Ich habe in meiner Laufbahn noch nie einen psychisch stabilen Menschen mit sozialem Rückhalt, emotionaler Reife, finanzieller Sicherheit und klaren Zukunftsperspektiven getroffen, der sich entspannt für eine Straftat entschieden hat.

Jetzt könnte man annehmen, dass die Gericht so zielsicher zuweisen, dass ich in meiner Arbeit genau die richtigen Klienten bekomme, denen durch eine Therapie zielsicher geholfen werden kann. Oder – was wahrscheinlicher ist -, dass Verbrechen und die Herausforderungen des Lebens in einem starken direkten Zusammenhang stehen.
Hier wartet die erste Schwierigkeit: Wann sprechen wir von einer Auffälligkeit, wann von einer Störung? Ist jemand krank, wenn er impulsiv, verantwortungslos oder empathielos handelt – oder ist er „nur“ ein Täter, dessen Persönlichkeit gesellschaftlich problematisch, aber nicht pathologisch – nicht krankhaft – ist?

Gesellschaftliche Desillusionierung
Immer häufiger begegne ich Menschen, die nicht mehr daran glauben, mit eigenen Fähigkeiten etwas an ihrer Lebenssituation ändern zu können. Der soziale Aufstieg erscheint vielen unerreichbar – Resignation, Hoffnungslosigkeit und der Verlust von Zukunftsperspektiven sind die Folge.

Wo Veränderung nicht mehr vorstellbar ist, schwindet auch Verantwortungsgefühl – ein Nährboden für psychische Krisen und kriminelle Handlungen.

Die Stigmatisierung von Straftätern verstärkt diese Dynamik zusätzlich. Forensische Psychotherapie muss solche gesellschaftlichen Zusammenhänge mitdenken. Ohne diese Perspektive droht sie, problematische Entwicklungen der Gemeinschaft zu stabilisieren und bei Straftätern lediglich Symptome zu behandeln – nicht deren Ursachen.

Zwei Beispiele
Ein Beispiel zeigt die Grauzone zwischen strafrechtlicher Bewertung und psychischer Erkrankung: Menschen, die stehlen, um ihre Sucht zu finanzieren. Juristisch handelt es sich um Diebstahl – therapeutisch betrachtet ist es oft Ausdruck einer schweren psychischen Störung. Der Krankheitswert beginnt nicht erst bei einer diagnostizierten Kleptomanie: Bereits eine Suchterkrankung stellt eine tiefgreifende Beeinträchtigung dar, die häufig selbst Symptom belastender Lebensumstände ist.

Ein weiteres Beispiel: Gewalt und Trauma. Die große Mehrheit der Gewalttäter haben selbst Gewalt erfahren. Diese Erfahrungen führen dazu, dass sie häufig nicht diagnostiziert traumatisiert sind und in Stresssituationen mit impulsiven, dysfunktionalen Mustern reagieren – schneller als emotional stabile Menschen. Gleichzeitig haben sie in ihrer Biografie gelernt, Gewalt als Mittel zur Problemlösung einzusetzen. Viele wollen kein Opfer sein und entscheiden sich – bewusst oder unbewusst – für die Rolle des Täters. Andere Lösungen bleiben ihnen oft verschlossen: Sie sind kognitiv vielleicht noch
nachvollziehbar, aber in den Gefühlen nicht verankert – das Erleben trägt sie nicht.

Psychotherapie oder Medikation?
Eine andere Herausforderung ist die Arbeit mit Menschen, die an Schizophrenie oder wahnhaften Störungen leiden und somit klar als psychisch krank eingestuft werden. Sie werden häufig zur Psychotherapie verpflichtet, profitieren jedoch primär von stabilisierender Medikation. Ohne Medikamente ist Psychotherapie oft nicht möglich. Doch sobald der Zwang zur Medikation endet, setzen viele Betroffene ihre Medikamente mangels Krankheitseinsicht ab. Häufig folgt eine Dekompensation – und nicht selten ein Rückfall. Ein zentraler Teil der Therapie ist daher, Krankheitseinsicht zu fördern, um eine freiwillige Weiterbehandlung sicherzustellen. Dies geschieht vor allem über den Aufbau einer tragfähigen Vertrauensbeziehung.

Unter- und Überdosierung
PsychiaterInnen stehen hier vor einem Dilemma:

  • Eine Unterdosierung führt zu einer unzureichenden Kontrolle psychotischer oder impulsiver Symptome und damit zu einem hohen Rückfallrisiko, aber auch die Chance sich mit intensiven Gefühlen therapeutisch auseinanderzusetzen.
  • Eine Überdosierung hingegen verursacht Sedierung und Antriebslosigkeit, was Therapie und Resozialisierung erschwert, den Widerstand gegen Medikamente erhöht und das Rückfallrisiko oftmals lediglich zeitlich verschiebt.
  • Viele betrachten die Sedierung als das geringere Übel, da sie das Risiko schwerer Taten unmittelbar reduziert – was als wichtigster Behandlungsauftrag gilt.

Fazit
Die Arbeit mit StraftäterInnen bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Krankheit und Schuld, Verantwortung und Schicksal, Therapie und Kontrolle. Forensische Psychotherapie bedeutet, gemeinsam mit den KlientInnen diese Grauzonen auszuhalten, Risikomanagement mit Menschlichkeit zu verbinden und Menschen auf ihrem oft schwierigen Weg zurück in die Gesellschaft zu begleiten – mit Rückschlägen und Misserfolgen, aber glücklicherweise auch mit Erfolgen.

Forensische Psychotherapie bedeutet, gemeinsam mit den KlientInnen diese Grauzonen auszuhalten, Risikomanagement mit Menschlichkeit zu verbinden und Menschen auf ihrem oft schwierigen Weg zurück in die Gesellschaft zu begleiten.

Gleichzeitig braucht es gesellschaftliche Perspektiven: Ohne Hoffnung auf Teilhabe und sozialen Aufstieg drohen Resignation und Verrohung. Eine gesunde Gesellschaft muss selbstkritisch sein und daher nicht nur individuelle Behandlung ermöglichen, sondern auch reale Chancen und glaubwürdige Zukunftsperspektiven eröffnen.

Der Autor, Dominik Bardeau, ist Psychotherapeut in freier Praxis, in der Psychosozialen Beratungsstelle Linz Land und in in der Forensischen Ambulanz Linz sowie Vortragender und Trainer für ÖAGG Propädeutikum.

2 Replies to “Gesund, krank oder Täter”

  1. Ich frage mich warum die Forensik sich eigentlich nur um Gewalttäter kümmert. Die Menschen welche anderen hohen Schaden zufügen weil sie betrügen und korrupte Machenschaften betreiben, in Folge oft Existenzen unbeteiligter zerstören, oder noch schlimmer Auslöser sind das Menschen ihr Leben beenden, werden weder begutachtet, noch erhalten sie eine Einweisung in ein forensisch-therapeutisches – Zentrum. Dabei sind diese Personen doch ebenfalls hochgefährlich für die Gesellschaft. Wo bleibt hier der gesetzliche und gesellschaftliche Wille diesen Menschen medikamentöse und therapeutische Betreuung als Auflage zuzuweisen?

  2. Ja, das ist eine spannende Frage und hat wohl damit zu tun, dass die Gefahr nicht unmittelbar Leib und Leben bedrohen kann.

    Der langfristige Schaden ist natürlich enorm, aber für solche Dinge ist die Gesellschaft oft blind.

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